Grenzüberschreitung die Zweite
"Das müssen die Hunde unter sich ausmachen." Bei diesem Satz stellen sich mir alle Haare auf. Nicht etwa, weil der Satz per se nicht richtig wäre, sondern weil er meist von Großhundbesitzern gesagt wird, die keine Lust haben, sich um ihre Hunde zu kümmern oder sie generell nicht unter Kontrolle haben. Ich möchte hier aber keine Zeile damit verschwenden, über derartige Leute zu schimpfen, sondern erklären, was hier aus Hundesicht geschieht. Das Unter-sich-Ausmachen ist übrigens so lange kein Problem wie alle Beteiligten sozial souverän sind und keiner eine körperliche Überlegenheit ausnutzt. Sobald ein Beteiligter bei einer Wald-und-Wiesen-Hundebegegnung jedoch eine körperliche Überlegenheit ausnutzt, kann von sozialer Souveränität keine Rede mehr sein.
Schauen wir uns zunächst die Hunde an, deren Grenze überschritten wird. Was heißt das überhaupt? Nun, diese Hunde zeigen ganz deutlich, dass sie sich in der Situation unwohl fühlen, lieber Abstand halten möchten, sie suchen bei Herrchen oder Frauchen Schutz und Hilfe oder hätten gerne ein langsameres Tempo bei der Begegnung. Sie züngeln, wenden den Blick ab, werden steif, versuchen zu Herrchen oder Frauchen zu kommen, stellen die Rückenhaare auf. Notfalls knurren sie, schnappen, laufen weg. Manche ziehen den Schwanz ein, legen sich vor Angst auf den Boden oder winseln. Das sind jedoch die wenigsten, die sich derartig passiv verhalten und sich hinlegen, oft sind es Welpen. Diese Hunde brauchen in solch einer Situation dringend Unterstützung. Sie müssen erfahren, dass auf ihr Rudel, sprich Herrchen, Frauchen und ggf. weitere Hunde Verlass ist, dass sie dort Sicherheit erfahren und sich die anderen darum kümmern, dass die unangenehme Situation endet. Tun sie das nicht, nehmen diese Hunde irgendwann die Sache selbst in die Hand und gehen zum Angriff, zur Flucht, in seltenen Fällen zum "Hampelmann" (Spielen) oder zur völligen Erstarrung über. In ihren Augen schreien diese Hunde ihre Angst, ihr Unbehagen in die Welt hinaus, doch es bleibt ungehört. So als ob ich Sie am Arm anfasse, Sie sagen mir, dass Sie das nicht möchten, woraufhin ich Sie ohrfeige. Und zu allem Überfluss meint Ihr danebenstehender Partner auch noch, Sie sollen sich selber um Ihre Angelegenheiten kümmern. Eine soziale Katastrophe für den Betroffenen. Leider wird in viel zu vielen Hundeschulen immer noch die Mähr vom "da müssen die durch", "sie müssen lernen, sich zu wehren" oder "das machen die unter sich aus" erzählt. Machen die Hunde mehrmals oder häufig eine solche Erfahrung mit völliger Hilflosigkeit, großer Angst und ohne Unterstützung, ist das verheerend für ihr Sozialverhalten. Und spätestens wenn sie größer sind als der andere oder ein anderer Hund, verhalten sie sich genauso distanz- und respektlos anderen gegenüber wie sie es an sich selbst erfahren haben. Und schon sind wir bei den Grenzüberschreitern.
Davon gibt es zweierlei: einmal die, die schon als Welpen andere überrumpeln konnten und denen niemals Einhalt geboten wurde. Diese haben nie gelernt, die Zeichen anderer zu deuten und adäquat darauf zu reagieren. Mit anderen Worten: sie sind schlecht sozialisiert. Die anderen sind die, deren Grenze häufig überschritten wurde, ohne Unterstützung zu erhalten. Wenn diese dann körperlich in der Lage sind, das erlernte Verhalten auf andere anzuwenden, wird munter Abwehrverhalten anderer missachtet oder sogar getreu dem Motto "Angriff ist die beste Verteidigung" gehandelt. Auch das ist schlechte Sozialisation. Bevor man selbst in die unangenehme Situation mit Unbehagen und Angst kommt, sorgt man dafür, dass es dem Anderen noch schlechter geht. Um im Beispiel von vorhin zu bleiben: bevor Sie also das nächste Mal trotz Abwehr von mir geohrfeigt werden, rennen Sie eher zu mir und ohrfeigen mich, motzen mich an oder versuchen sonst wie, mich von Ihrem Leib zu halten. Verständlich, oder?
Ist Ihnen noch was aufgefallen? Welpenspielstunden können Brutstätten für derlei schlecht sozialisierte Hunde sein. Paradox oder? Wenn eine Runde Welpen (eher) unkontrolliert miteinander spielen, KÖNNEN sie kein sozialverträgliches Verhalten erlernen. Sie brauchen eine Instanz, die ihnen vermittelt, was akzeptabel ist und was nicht. Das kann ein sozial absolut souveräner Althund sein, z. B. die Mutterhündin, allerdings funktioniert das in so künstlich zusammengewürfelten, nicht sozialen Verbänden wie einer Welpenstunde eher selten. Instanz muss also der Trainer sein, der dabei den Besitzern das richtige Verhalten vermittelt. Und noch etwas sollte klar sein: große Hunde sind häufiger die Grenzüberschreiter, kleinere häufiger die, deren Grenzen überschritten werden. Einfach, weil große Hunde es können.
Und Semmi? Seine Grenzen werden leider häufig überschritten, auch weil man ihm seine Unsicherheit ansieht (auf Schwache haut es sich leichter). Er hat viele schlechte Erfahrungen gemacht und immerhin sind wir mittlerweile von der Strategie "Angriff ist die beste Verteidigung" weg. So macht er einer 45 kg Berner Sennen Mischlingshündin schöne Augen, den Übermut einer doppelt so großen und doppelt so schweren Nala dämmt er mittlerweile gekonnt ein und das jugendliche Gepöbel eines gleichgroßen, etwa 1,5-mal so schweren Seppis ignoriert er weg oder sagt ggf. angemessen bescheid. Daher weiß ich, dass Semmi auch ganz normal mit Hunden umgehen und kommunizieren kann. Egal ob Hündin oder Rüde, kastriert oder unkastiert.
Seit Fritzi weiß ich was die Kleinhundbesitzer meinten, wenn ich mit Charlie und/oder Nico, unseren 60+ cm Hunden, unterwegs war und die Besitzer zunächst ängstlich reagierten und dann ganz entspannt und glücklich bemerkten wie vorsichtig die beiden wären. Ich verstand das damals nicht, war doch dieses Verhalten normal. Nico senkte sogar manchmal seinen Po ab, damit die kleinen daran riechen konnten. Jetzt weiß ich, dass das was normal sein sollte, es leider nicht ist. Fritzi strahlte zwar viel mehr Souveränität aus als Semmi, aber trotzdem wurde das sehr häufig ignoriert. Umso überraschter war er, wenn sein Desinteresse an Kontakt akzeptiert wurde. So begegneten wir auf einem Spaziergang an der Isar, Charlie vorne weg, einem Königspudel. Wir liefen gegen die Sonne, d.h. Fritzi lief beinahe blind, aber mit seinem üblichen Lass-mich-in-Ruhe-Ausdruck. Da wir auf einem schmalen Trampelpfad liefen, passierte der Pudel uns recht nah und Fritzi bemerkte ihn erst, als er wenige Zentimeter vor ihm war. Fritzi holte Luft zum Bellen in der Erwartung, der andere würde gleich Kontakt aufnehmen, doch der Pudel würdigte ihn keines Blickes und lief vorbei. Fritzi schnaufte hörbar aus ohne zu bellen und sah ihm verwirrt hinterher.
Solche Begegnungen brauchen die Hunde. Jeder respektiert den anderen und auch der schwächere, und sei er noch so klein, wird in seinem Wunsch zu Abstand akzeptiert. Ich wünsche mir mehr dieser Pudel, dieser Nicos, Charlies, Emmas, dieser Berner Sennen Mischlinge und Irinis in diese Welt. Für Semmi. Für Fritzi. Für die vielen verängstigten kleinen Hunde. Und für deren Besitzer. Die könnten dann wieder etwas entspannter spazierengehen.
P.S.: Das obige Bild stammt aus einer Spielsequenz. Wer mir nicht glaubt, möge sich dieses kurze Video ansehen. Es wurde in derselben Spielsequenz aufgenommen.