Pizzaränder und Oberstübchen
Semmi träumt. Er träumt viel und er träumt dramatisch. Oft regt er sich dabei sehr auf und wir blicken mit Sorge auf ihn. Vorsichtig angesprochen und berührt haben wir ihn nur einmal, als es ganz schlimm wurde. Wir glauben, es ist wichtg für Semmi zu träumen und seine Erlebnisse zu verarbeiten. Ob er eine Posttraumatische Belastungsstörung, kurz PTBS, hat? Das vermuten wir, aber ausführlich darüber schreiben werde ich ein andermal. Fest steht: es geht was vor in Semmis Oberstübchen. Bewusst ist das natürlich nicht. Viele Menschen und auch immer noch viel zu viele Wissenschaftler denken, Tiere wären roboterartige Kreaturen, getrieben von ihrer DNS. Raum für bewusste Entscheidungen bei Tieren gäbe es nicht und die Erziehung/Programmierung gliche einer recht simplen Rechnung. Weit gefehlt. Erstens ignorieren diese Leute Erkenntnisse über die Entscheidungsfindung bei Menschen. In Kernspintomographen kann man bereits 7 Sekunden vor der Entscheidung erkennen, wie sich der Probant entscheiden wird. Die Erklärung dazu, denkt er sich danach aus (Der unbewusste Wille). Von wegen bewusst! Zu welcher Gurke Sie im Supermarkt greifen, entscheidet Ihr Unterbewusstsein. Die Begründung (sofern Sie eine brauchen) denken Sie sich danach aus. Roboter-Theoretikern bzw. Verfechtern von "die einfachste Erklärung zuerst" werfe ich also entgegen: "Ja, da haben Sie recht! Seien Sie aber bitte gerecht und wenden Sie Ihre Theorien auch auf Menschen an, die jüngsten Erkenntnisse geben Ihnen da sogar recht." Das hätten Sie nicht gedacht, oder?! Die Antworten und Gegenargumente fallen übrigens auch bei gestandenen Professoren eher dürftig aus. Sie beginnen meist mit "Ja, aber" oder "Das können Sie doch nicht vergleichen, die Menschen erzählen doch warum...". Wie gesagt, die Begründung denken Sie sich eh nach der Entscheidungsfindung aus. Und warum nicht vergleichen? Weil es nicht in den Kram passt?
Gibt es also gar nichts Bewusstes? Doch, natürlich. Wir denken ja auch viel nach. Die Erklärung für eine Entscheidung würde ich schon dem Bewusstsein zuschreiben, auch wenn die Entscheidung selbst im Unterbewusstsein gefällt wird. Und ihre Erklärung können Sie mir erzählen. Ist bei Tieren also Leerlauf in der Oberstube, z. B. wenn sie rumliegen, eine Entscheidung fällen, die Gegend im Auge behalten, genüsslich an einem Knochen nagen etc.? Ich behaupte nein. Jedenfalls nicht mehr als bei Ihnen oder mir. Zu gern würde ich wissen, was bei unseren Hunden im Oberstübchen so vor sich geht. Wenn sie Zeitung lesen (also schnüffeln), rumliegen, uns zum Streicheln/Spielen/Fressen geben auffordern usw. Und ich würde viel geben, wenn ich wüsste, was in folgender Situation durch Nicos Kopf ging. Dazu muss kurz ausholen, aber bleiben Sie dran.
Schonmal vom Esel und den zwei Heuhaufen gehört (eine Theorie wohlgemerkt)? Laut Roboter-Theoretikern entscheidet sich der Esel immer für den größeren Haufen. Sind beide gleich groß und gleich weit entfernt, hat der Esel ein Problem. Oder so ähnlich. Beim Fressen würde bei Tieren nämlich prinzipiell stets das triebgesteuerte Unterbewusstsein regieren. Bewusste Entscheidung? Keinesfalls. Was soll ich sagen?
Nico, zwar Hund und kein Esel, bekam von uns einmal einen Pizzarand zu fressen - dieser heikle Hund sollte ein paar Gramm mehr auf die Rippen bekommen. Er fraß den Pizzarand aber nicht, sondern vergrub ihn unter seinen Decken im Küchenkörbchen, das etwa 2 m von seinem Fressnapf entfernt stand. So weit so alltäglich. Ein paar Tage später gab's mal wieder Fressen; dazwischen natürlich auch, nur passierte nichts Ungewöhnliches: Nico erbarmte sich ein paar Brocken zu fressen, den Rest dann irgendwann nachts oder gar nicht.
An diesem Tag also stand Nico vor seinem frisch gefüllten Napf und betrachtete ihn. Er schien konzentriert und man sah es rattern in seinem Kopf, Stichwort Denkerfalten. Nico blickte zu seinem Körbchen und wieder auf den Napf. Ein paar Sekunden später ging er zu seinem Körbchen - mein Mut sank, Nico würde schon wieder nicht oder nur mit viel zureden fressen. Aber nein, er grub seinen Pizzarand von vor ein paar Tagen aus, fraß ihn auf, ging dann zum Napf und fraß diesen komplett leer. Was ging da in diesem Kopf vor? Weder ging er zuerst zum größeren näheren Haufen, noch fraß er den Pizzarand sofort auf. Das Ganze war weder triebgesteuert noch ein genetisch vorprogrammierter Weg. Die Roboter-Theoretiker, denen ich diese Situation schilderte, hatten nie eine Erklärung dafür und schienen nachdenklich. Ich weiß nicht, was Nico sich dachte. Ich weiß aber, dass er sich was dachte. Und ich weiß, dass ich viel dafür geben würde, einmal zu wissen, was da im Oberstübchen vor sich geht. Und das ist doch wenigstens etwas, das ich weiß...